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Stand: 27.02.2019

Gastbeitrag von Christoph Butterwegge

Große Koalition – kleine Erfolge: Eine sozialpolitische Bilanz

Angela Merkel feiert die Wirtschafts-, Sozial- und Steuerpolitik ihrer Regierung als Erfolg auf der ganzen Linie: „Den Menschen in Deutschland ging es noch nie so gut wie heute.“

Diese oberflächliche, weil undifferenzierte Einschätzung der Lebenslagen von 82,5 Mio. Einwohnern berücksichtigt zwar, dass die Reichen in der vor dem Abschluss stehenden Wahlperiode reicher, unterschlägt aber, dass die Armen gleichzeitig zahlreicher geworden sind.

Während die beiden reichsten Geschwister unseres Landes, Susanne Klatten und Stefan Quandt, im Mai 2017 für das Vorjahr eine Rekorddividende in Höhe von 1,074 Milliarden Euro nur aus ihren BMW-Aktien bezogen, befanden sich 600.000 Alleinerziehende mit 1 Mio. Kindern im Hartz-IV-Bezug, 4,1 Mio. Geringverdienerinnen und Geringverdiener unter der Armuts(risiko)grenze, 526.000 Rentnerinnen und Rentner in der staatlichen Grundsicherung und 6,85 Mio. Menschen in der Schuldenfalle. Alle diese Zahlen sind deutlich höher als vier Jahre zuvor, was den eingangs zitierten Satz der Kanzlerin als soziale Wohlfühlpropaganda und politische Beruhigungspille entlarvt.

 

Normalarbeitsverhältnisse noch nie unter so massivem Druck

Eine ganz andere Antwort auf die Frage nach dem Erfolg oder Misserfolg der Großen Koalition ergibt sich, wenn man die Schattenseiten der Wohlstandsentwicklung nicht ausblendet: Noch nie stand das Normalarbeitsverhältnis unter so massivem Druck, litten mehr Beschäftigte unter der Befristung ihres Arbeitsverhältnisses, seiner untertariflichen Bezahlung und/oder mangelnden Aufstiegschancen und fehlenden Möglichkeiten zur Planung ihres (Familien-)Lebens. Für die Normal- bzw. Geringverdiener, Studierenden, Transferleistungsbezieher und Rentner in einer deutschen Groß- oder Universitätsstadt war es noch nie so schwierig, eine bezahlbare Wohnung zu finden. Noch nie waren auch so viele junge Leute gezwungen, neben dem Studium zu arbeiten, um es finanzieren zu können. Schließlich ist das Rentenniveau trotz anhaltenden Wirtschaftswachstums nie zuvor so stark gesunken wie in den vergangenen Jahren.

Angesichts dieser Problemlage sind CDU/CSU und SPD ihrer Verantwortung in der Großen Koalition nicht gerecht geworden. Zu fragen bleibt, ob ihre Pläne für die nächste Legislaturperiode eine Korrektur der Einkommens- und Vermögensverteilung ermöglichen, was nicht zuletzt nötig wäre, um rechten Stammtischen die Munition für eine gezielte Stimmungsmache gegen ethnische Minderheiten zu nehmen.

 

Mindestlohn, Rentenpakete und Mietpreisbremse

Durch die Einführung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns zum 1. Januar 2015 hat die zweite Große Koalition unter Bundeskanzlerin Angela Merkel arbeitsmarktpolitisches Neuland betreten. Gemindert wurde dieser sonst zweifellos historisch zu nennende Fortschritt einerseits durch zahlreiche Ausnahme- und Sonderregelungen, die gerade sozial benachteiligte Personengruppen wie Langzeitarbeitslose, Jugendliche ohne Berufsabschluss, Kurzzeitpraktikanten, Zeitungszusteller und Gefängnisinsassen zeitweilig oder ganz vom Mindestlohn ausschlossen, sowie andererseits durch die Tatsache, dass der deutsche Mindestlohn mit 8,50 Euro (ab 1. Januar 2017: 8,84 Euro) brutto pro Stunde der niedrigste in ganz Westeuropa war und ist. Aus diesem Grund konnte die massenhafte Erwerbsarmut durch ihn zwar vermindert, aber nicht verhindert werden, dass der jetzt nach unten abgedichtete Niedriglohnsektor weiter wuchs.

Daraus resultiert ein weiteres Problem, das besonders viele Arbeitnehmer und Soloselbstständige umtreibt: die zunehmende Altersarmut. Während die schwarz-gelbe Vorgängerregierung unter Bundeskanzlerin Angela Merkel nichts dagegen unternommen hatte, sorgte die Große Koalition erstmals seit 1972 wieder für Leistungssteigerungen in der Rentenpolitik: Ein „großes Rentenpaket“ stand am Anfang, ein „kleines“ am Ende der 18. Legislaturperiode. Die beiden Hauptziele der Lebensstandardsicherung und der wirksamen Armutsbekämpfung wurden aber gleichermaßen verfehlt.

 Auch die von CDU/CSU und SPD eingeführte Mietpreisbremse greift nicht, sondern hinterlässt allerhöchstens Schleifspuren auf den lokalen Wohnungsmärkten. Das am 1. Juni 2015 in Kraft getretene Gesetzermöglicht es den Bundesländern, folgende Regelung in Gebieten mit von ihnen als „angespannt“ klassifizierten Wohnungsmärkten fünf Jahre lang anzuwenden: Wohnungseigentümer dürfen bei einer Wiedervermietung nicht mehr als 10 Prozent der ortsüblichen Vergleichsmiete nehmen. Die zahlreichen Ausnahmen (bei Neubauten, möblierten Wohnungen und umfassenden Modernisierungen) sowie die fehlenden Offenlegungspflichten, Kontrollmöglichkeiten und Sanktionen bei Verstößen machen die Mietpreisbremse jedoch zu einem weitgehend wirkungslosen Instrument der Kostendämpfung, das die Wohnungsnot der Haushalte mit niedrigen Einkommen kaum mildert.

Große Koalition hat in der Armutsbekämpfung versagt

Trotz einzelner sozialer Verbesserungen, die es manchen Niedriglöhnern und Kleinstrentnern erleichtern, über die Runden zu kommen, haben CDU, CSU und SPD im Kernbereich der Armutsbekämpfung versagt. Betrachtet man ihre Forderungen zur Sozial-, Beschäftigungs- und Rentenpolitik im Bundestagswahlkampf, werden auch kaum Hoffnungen auf eine Kurskorrektur wach.

Mit dem Slogan „Sozial ist, was Arbeit schafft“ feiert im gemeinsamen Regierungsprogramm von CDU und CSU für die nächste Wahlperiode gar eine höchst zweifelhafte Parole fröhliche Urständ: Vor der letzten Reichstagswahl am 5. März 1933 verkündete Alfred Hugenberg, Vorsitzender der Deutschnationalen, Medienzar und Hitlers erster Wirtschaftsminister, in Zeitungsanzeigen: „Sozial ist, wer Arbeit schafft!“ 85 Jahre später haben die Unionsparteien den Satz nur leicht zu der Aussage „Sozial ist, was Arbeit schafft“ abgewandelt. Dabei handelt es sich im Grunde um eine reine Sklavenhalterideologie, die Lohnarbeit aus ihrem sozialen Rahmen herauslöst. Überhaupt nicht mehr gestellt wird die Frage nach deren Sinngehalt, nach den Arbeitsbedingungen und nach der Entlohnung, vom Anspruch der Stellenbewerber auf Berufs- und Qualifikationsschutz ganz zu schweigen.

Mit Vollbeschäftigung allein wäre keine soziale Gerechtigkeit erreicht

Selbst wenn CDU und CSU im Falle des Wahlerfolgs „bis spätestens 2025“ für Vollbeschäftigung, d.h. eine Quote der offiziell registrierten Arbeitslosigkeit unter 3 Prozent sorgen würden, wie sie es in ihrem Regierungsprogramm versprechen, wäre damit keineswegs soziale Gerechtigkeit erreicht. Erschreckend ist nämlich gerade, dass die Armut in Deutschland kontinuierlich wächst, obwohl die Arbeitslosigkeit seit Jahren abnimmt.

Offenbar glaubt die Union, den Wahlkampf ohne rentenpolitisches Konzept bestreiten zu können, weil auf diesem Politikfeld bis zum Jahr 2030 von der Bundesregierung gar keine weiteren Maßnahmen mehr ergriffen werden müssten. Dies zeigt ihre fortdauernde Ignoranz gegenüber dem Problem der Altersarmut. In dem „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“ überschriebenen CDU/CSU-Regierungsprogramm ist zwar von dem Bemühen die Rede, „weiterhin Altersarmut zu vermeiden“, nicht aber von deren Bekämpfung, Verringerung und Beseitigung.

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