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Stand: 20.07.2018
Ende einer Ära: Abschied vom Schnellverkehr im Saaletal nach 117 Jahren
Am Sonnabend schwenken sie gegen 21 Uhr die weißen Taschentücher zum Abschied vom Intercity-Express (ICE) auf der Saalbahn. Mit Eröffnung der Hochgeschwindigkeitsstrecke durch den Thüringer Wald verliert die Ostthüringer Bahnstrecke über Jena und Saalfeld die stündlichen Fahrten. Ein Rückblick und ein Ausblick:

08. Dezember 2017

Jena. Wir blicken in einigen Schlaglichtern auf die 117-jährige Fernverkehrsgeschichte auf der Saalbahn zurück.

1900

Schon vor 1900 begehrten die Städte darum, am Fernbahnnetz zu hängen. Traditionell rollten die Züge von Berlin nach München über Zeitz und Gera nach Saalfeld. Nachdem die Königlich-Preußische Bahn die Saal-Eisenbahn-Gesellschaft übernommen hatte, veränderte sie die Streckenführung für die Schnellzüge, die wegen des kürzeren Weges ab 1. Mai 1900 über Jena nach Saalfeld fuhren.

 

In einer Petition vom 26. November 1898 hatten Vertreter der Kreise Ziegenrück, Pößneck, Neustadt und Triptis gefordert, dass die Fernzüge weiter über die altbewährte Route rollen. Falls nicht, sollten zumindest Kurswagen diese Strecke nehmen und in Saalfeld in die Schnellzüge eingereiht werden, berichtet Werner Drescher. Der frühere Schulleiter aus Jena recherchiert seit den 1970er Jahren zum Bahnverkehr in der Region und hat bereits mehrere Bücher zum Thema veröffentlicht. „Mich faszinierte seit jeher, wie im Bahnverkehr verschiedene Gewerke ineinander greifen.“

1936

Kurvenreich war die Strecke durchs Saaletal schon immer. Von Großheringen bis Rudolstadt-Schwarza bleiben die Schienen westlich der Saale, um Brückenbauwerke zu sparen. Deshalb schlängelt sich die Strecke in 80 Gleisbögen neben dem Fluss entlang. Dennoch bleibt der Fernverkehr auch nach drei Jahrzehnten der Saalbahn treu. Einige Züge fahren sogar bis nach Florenz.

Die Deutsche Reichsbahn setzt auf der Nord-Süd-Verbindung die modernsten Fahrzeuge ein. Noch fehlt die Oberleitung, so dass von 1936 bis 1939 dieselelektrische Schnelltriebwagen, die Nachfolger der „Fliegenden Hamburger“, auf der Linie fuhren. Mit 160 Kilometern pro Stunde in der Spitze galten sie damals als schnellste Züge der Welt, kamen auf der Fahrt von Berlin nach München via Jena auf eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 95 Kilometern pro Stunde. „Auf der Saalbahn sind die Triebwagen teilweise bis zu 160 Kilometer pro Stunde schnell gefahren“, sagt Bahnexperte Drescher.

1967  

Interzonen-Züge nutzten die Bahnstrecke, um Westberlin mit München zu verbinden. DDR-Bürger durften nicht oder nur unter besonderen Bedingungen einsteigen. Für sie fuhren Schnellzüge zwischen Saalfeld und Berlin.

Die Nachwehen des Zweiten Weltkrieges treffen auch die Eisenbahn. Im Jahr 1941 hatte die Reichsbahn die Elektrifizierung abgeschlossen. Die Oberleitung und das zweite Gleis forderte die Sowjetunion nach dem Krieg als Reparationsleistungen ein. Während das zweite Gleis wieder aufgebaut wurde, blieb die Bahnstrecke zwischen Camburg und Probstzella bis nach der Wende ohne Oberleitung.

1990

Nach der Wende hält am 27.Mai 1990 der erste Interregio auf der Linie München-Leipzig in Saalfeld und am Jenaer Saalbahnhof. Ende Mai 1992 verkehrt der erste Intercity auf der Saalbahn, die bis 1995 elektrifiziert wird.

Anfang der 1990er Jahre fällt aber die Entscheidung, eine Neubaustrecke durch den Thüringer Wald zu bauen. Der damalige Thüringer Ministerpräsident Bernhard Vogel(CDU) setzt die Variante durch und gibt Sachsen das Nach­sehen, das sich für eine kürzere Führung über die Sachsen-Franken-Magistrale eingesetzt hatte. Eine Alternative des Gutachterbüros Vieregg-Rössler sah vor, durch einige wenige Ingenieurbauwerke die Saalbahn deutlich zu beschleunigen. Der Verkehrswissenschaftler Heiner Monheim sagt rückblickend klar: „Mit 20 Prozent des Investitionsvolumens wären ein größerer Nutzen zu erzielen gewesen und mehr Zentren angebunden.“ Doch die Entscheidung pro Erfurt steht und besiegelt den Anfang vom Ende des regelmäßigen Fernverkehrs auf der Saalbahn. Damals wiegen sich die Jenaer Stadtväter in Sicherheit. Macht doch der Planfeststellungsbeschluss der Deutschen Bahn zur Auflage, nach Fertigstellung im Zwei-Stunden-Takt mit dem Interregio auf der Saalbahn zu fahren. Inzwischen gibt es diese Produktkategorie des Fernverkehrs jedoch nicht mehr. „Es lag außerhalb der Vorstellungskraft, dass Jena vom Fernverkehr abgekoppelt wird“, sagt Bahnexperte Drescher.

2000 

·Der Intercity-Express (ICE) soll regelmäßig auf der Saalbahn verkehren. Am 30. Januar 2000 hält der erste ICE, die fortan im Zwei-Stunden-Takt verkehren. Bald stoppt jede Stunde ein Zug pro Richtung in Jena - die optimale Anbindung ans Fernbahnnetz in Nord-Süd-Richtung ist erreicht.

Weil die Bahnsteige am Jenaer Saalbahnhof zu kurz sind, braucht es einen neuen Halt. Die Stadtväter können sich nicht auf einen neuen Zentralbahnhof in Burgau verständigen, sondern plädieren für den Ausbau des Paradiesbahnhofes. Vorübergehend richtet die Deutsche Bahn einen 400 Meter langen Bretterbahnsteig ein. Dieser stößt bei den Reisenden mitunter auf Verwunderung. Der Fußball-Bundesligist Hamburger SV, der zu einem Spiel im Jenaer Stadion anreist, will am liebsten gar nicht aussteigen. „Halt, bleibt im Zug. Das kann noch nicht der Bahnhof sein“, warnte ein Betreuer die Profifußballer.

Bereits Mitte 1999 hatte Bundesverkehrsminister Franz Müntefering (SPD) die begonnenen Bauarbeiten an der neuen ICE-Strecke aus finanziellen Gründen gestoppt. Bodo Ramelow, heute Ministerpräsident von Thüringen, kämpft gegen den Neubau. „Ich war der Überzeugung, dass mit weniger Geld eine Beschleunigung der Saalbahn möglich gewesen wäre“, sagt er rückblickend. Doch die Befürworter setzen das milliardenschwere Projekt über Erfurt durch. Am 10. März 2002 kündigte Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) an, dass die Bauarbeiten weitergehen.

2006

Sanft gleitet der Intercity-Express durchs Saaletal. Asiaten schauen mit offenem Mund zum Fenster raus. Hier eine Burg, dort ein Schloss - sie kommen kaum mit dem Fotografieren hinterher. Zur Fußball-Weltmeisterschaft nehmen viele Fußballtouristen die Fernzüge der Deutsche Bahn, um von Stadion zu Stadion zu reisen. Auf der sanierten Strecke fahren die ICE mit Neigetechnik: Sie legen sich in die Kurven und können deshalb mit höherer Geschwindigkeit rollen. Das verlangt den Fahrgästen einen stabilen Magen ab, so sehr schaukelt es auf der kurvenreichen Strecke. 3:32 Stunden brauchen die Züge von Jena nach München.

·                                                                            

2009

Fast schon im Monatstakt lädt die Deutsche Bahn in den Thüringer Wald ein. Die Termine eint, dass sie meist in landschaftlich reizvoller Umgebung stattfinden. Mitten im Gebirge bohrt die Deutsche Bahn Tunnel und baut Brücken. Jeder Tunnel bekommt eine Patin. Im Goldberg-Tunnel darf beispielsweise die Landtagsabgeordnete Beate Meißner (CDU) ran und mit einem Bagger die letzte verbliebene Wand durchbrechen. Diese war freilich extra für diesen Anlass noch einmal aufgebaut worden. Doch immer wieder werden Forderungen laut, den Bau im Thüringer Wald zu stoppen. Eine Studie des Umweltbundesamtes ergibt, dass Kosten und Nutzen in keinem Verhältnis zueinander stehen.

Inzwischen ist klar: Die Deutsche Bahn plant keinen Fernverkehr mehr über die alte Strecke. Jena soll nur über Regionalzüge an die Fernverkehrsknoten angebunden werden. „Schade, dass die Stadt und das Land so wenig getan haben“, sagt Drescher.

2011

Die Hochschulen und die Wirtschaft in Jena erkennen, welche Gefahr eine Abkopplung vom Fernverkehr mit sich bringt. Das Bündnis „Fernverkehr für Jena“ setzt sich dafür ein, dass eine Anbindung bestehen bleibt. Zu Gute kommt der Stadt ein Strategiewechsel der Deutschen Bahn. Setzte der Fernverkehr lange nur auf wenige schnelle Verbindungen, führt der Zuspruch für die Fernbusse zur Zusage, wieder deutlich mehr Städte ans Intercity-Netz anzuschließen. Damit ergibt sich die Option für eine Fernverkehrslinie im Zwei-Stunden-Takt durchs Saaletal, die ab Ende 2023 starten soll.

2017

Zum Fahrplanwechsel am 10.Dezember geht die ICE-Neubaustrecke durch den Thüringer Wald in Betrieb. Erfurt wird zum zentralen Bahnknoten Mitteldeutschlands. Heute sei er glücklich, dass die Entscheidung pro Neubaustrecke gefallen sei, sagt Ministerpräsident Ramelow (Die Linke). Inzwischen lobt er Bernhard Vogel für seinen Einsatz. Die Strecke durch Südthüringen nennt er deshalb ehrfurchtsvoll „Vogelfluglinie“. Das trifft es, denn den Thüringer Wald durchfahren die ICE ohne Halt. Auf einen Bahnhof nahe Ilmenau hat die Deutsche Bahn aus finanziellen Gründen verzichtet.

Zumindest sichert das Kabinett von Bodo Ramelow zu, weiter auf eine gute Anbindung Jenas und Saalfelds zu pochen. Übergangsweise bestellt das Land zusätzliche Regionalzüge, um den Wegfall des Fernverkehrs zu kompensieren. Vorerst bleibt der Saalbahn nur ein Rumpfprogramm. Morgens fährt ein ICE von Jena (6.51 Uhr) nach Berlin und Hamburg, abends kommt einer aus der Hauptstadt an. Die Deutsche Bahn lehnt es aus Kostengründen ab, dass der Zug bereits in Saalfeld startet und dort endet. Ein Intercity hält in beiden Städten: Dieser verbindet sechs Tage pro Woche Leipzig und Karlsruhe.

Dennoch wird Werner Drescher der Saalbahn treu bleiben, wenn er in Richtung Süden fährt. „Ich boykottiere die neue Strecke nicht, aber ich sehe keine Notwendigkeit, sie zu nutzen. Landschaftlich ist die Fahrt durchs Saaletal und über den Frankenwald wesentlich reizvoller, obwohl die Reise ein paar Minuten länger dauert“, sagt der Bahnexperte, der wie andere am Samstag dem letzten ICE mit einer Träne im Auge winken wird. „Der Reiz des Reisens geht mit der Hochgeschwindigkeitsstrecke verloren.“

2023

Die Deutsche Bahn löst ihr Versprechen ein. Nach Auslaufen des Vertrages für den Franken-Thüringen-Express rollen die Doppelstock-Intercity im Zwei-Stunden-Takt zwischen Leipzig und Karlsruhe - mit Halten in Jena, Rudolstadt und Saalfeld. Seit Ende 2018 fahren dreimal täglich Intercity auf der Mitte-Deutschland-Schiene. Nur einen Jenaer Zentralbahnhof, den wird es nicht geben: Trotz üppiger Förderung konnten sich die Stadträte nicht auf das aufwändige Projekt verständigen - umgestiegen wird in Göschwitz. Ob es so kommt? Wir werden berichten.

Quelle:

http://www.otz.de/startseite/detail/-/specific/Ende-einer-Aera-Abschied-vom-Schnellverkehr-im-Saaletal-nach-117-Jahren-575710613